aviso 1 | 2018
SKIZZE UND IDEE
COLLOQUIUM
|24|
Das Sichtbare als Unhörbares
Nun muss nicht gleich geleugnet werden, dass unbewusste
Kräfte beimSchaffenmusikalischer Verläufe mitwirken, wenn
die Situation der Komponistenwerkstatt nüchtern in den Blick
genommen wird. Das leere Notenblatt auf dem Schreibtisch.
Leblos starrende Fünflinien-Systeme, die mit Punkten, Häl-
sen und Fähnchen bevölkert werden wollen. Die Tabula rasa
als Freifläche für die schriftliche Fixierung künftig zu hören-
der Ereignisse – wie paradox: Das Sichtbare als Unhörbares,
das später Hörbare als Unsichtbares. Tatsächlich ist Kompo-
nieren eine der komplexesten denkerischen Handlungen, zu
denen das menschliche Gehirn fähig ist. Komplex (und nicht
bloß kompliziert)? Ja, denn ohne die absolute Vorstellung
von Tonhöhen und Zusammenklängen, ohne die prospektive
Kraft für Dimension und Proportion von Gesamtdauer und
Zeitabschnitten eines musikalischen Verlaufs ist Kompo-
nieren nicht zu leisten. Weiter: ein untrügliches Gedächtnis
für die horizontale wie für die vertikale Ereignisfolge einer
Komposition ist ebenso unentbehrlich wie das Imaginations-
vermögen für die klanglichen Kombinationsmöglichkeiten
von Vokalstimmen und Instrumenten. Und wer nicht über
die Fähigkeit verfügt, auditive Vorstellungen ins optische
Mediumder Schrift zu überführen, überhaupt gehörsinnliche
Gedanken – gemeinhin musikalische Einfälle genannt – zu
fassen und in eine graphische Form zu überführen, die denk-
bar weit von ihrem Ursprung entfernt sind, der sollte sich in
kluger Bescheidung nicht Komponist nennen.
ie grundlegende Bedeutung der schriftlichen Fixie
rung von Kompositionen reicht aber insofern wei-
ter, als sich sowohl in der Niederschrift als auch im
Schreibvorgang des Komponisten, der an ihr ablesbar ist, der
gedankliche Entstehungsprozess eines Werks spiegelt oder
zumindest spiegeln kann. Das gilt vor allem für diejenigen
Niederschriften, die vor der endgültigen Formung eines Werks
liegen. In solchen Skizzen, Entwürfen und fragmentarischen
Arbeitsnotaten vermögen geschulte Au-
gen und Ohren basale Denkvorgänge
auszumachen: Der Komponist konzen
triert sich auf zentrale Formelemente des
Tonsatzes, notiert etwa charakteristische
Melodieverläufe oder zentrale harmoni-
sche Vorgänge, noch ohne die Gesamt-
gestalt des Werks detailliert imKopf zu
haben. Erst aus derartigen Denkpro-
tokollen erwächst der Notentext, den
der ausübende Musiker schließlich auf
seinem Pult vorfindet, zuletzt meist in
gedruckter Form. Auch wenn der Prak-
tiker in der Regel die Genese der musi-
kalischen Aufzeichnung nicht nachvoll-
zieht, sondern lediglich das Endprodukt
zum Klingen bringt, so gilt letztlich
auch hier die schon von demHistoriker
Johann Gustav Droysen im 19. Jahrhun-
dert formulierte Einsicht, dass wir das,
was ist, erst ganz verstehen, wenn wir
erkennen und uns klarmachen, wie es
geworden ist, aber wie es geworden ist
nur erkennen, wenn wir möglichst ge-
nau erforschen und verstehen, wie es ist.
Gedankenstrom und Schreibfluss
einander annähern
»mach Scizzi. […] alle machen es so«,
legt LeopoldMozart einmal seinemSohn
nahe, ein Rat, dessen dieser kaum be-
durfte, denn das abkürzende, aufs ab-
solut Notwendige skelettierte Festhalten
musikalischer Ereignisfolgen gehörte
ohnehin, wie allgemein üblich, zu Wolf-
gang Amadés Arbeitsgewohnheiten. Da-
für sprach ein nicht zu umgehender, stets
misslicher Umstand, demKomponisten
zu allen Zeiten pragmatisch begegne-
ten (und begegnen): Das Aufschreiben
von Musik benötigt viel mehr Zeit als
das Erklingen des Geschriebenen, und
je schneller eine Musik, je volltönender
sie ist, desto breiter wird die Kluft. Was
auf der ersten Partiturseite der Ouver-
türe von Johann Strauss’ Operette
Die
Fledermaus
steht (Abb. 1), beansprucht
bei einer Aufführung knapp sieben
Sekunden Zeit. Den Komponisten hat
die Niederschrift dieser Seite aber schät-
zungsweise eine Viertelstunde beschäf-
tigt, mehr, als das ganze Stück dauert.
42 solcher Seiten umfasst die gesamte
Ouvertürenpartitur. Ein routinierter
und metiersicherer Musiker würde sie
bei gehöriger Ausdauer an einem Tag
© Beethoven-Haus Bonn, Sammlung H. C. Bodmer, HCB Mh 97
3