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aviso 1 | 2018

SKIZZE UND IDEE

COLLOQUIUM

Arbeit gestaltetenmusikalischenVerläufe,

Ausschnitte, die Komponisten mit nur

in ihrer Vorstellung präsenten horizon-

talen oder vertikalen Ergänzungen und

Erweiterungen des Tonsatzes verbinden.

Ihre volle Geltung als Zeugen schöpferi-

schen Denkens haben Skizzen daher nur

im sehenden Ohr und imhörenden Auge

des Komponisten, immer dann, wenn

er von derartigen Notaten ausgehend

die Entfaltung der Komposition in allen

ihren Dimensionen leistet.

Reduzierte Vergegenwärtigungen

von Klingendem

Wie die meistenMenschen imAlltag, so

behandeln auch Komponisten ihre präli-

minaren Aufzeichnungen, ihre versuchs-

haften Anordnungen, ihre reduzierten

Vergegenwärtigungen von Klingendem

auf Papier nach vollbrachter Tat nach-

lässig, leidenschaftslos. Skizzenblätter,

immerhin Zeugen geistiger Anstrengung,

intime Belege für Wege und Irrwege

des musikalischen Denkens, werden in

der Regel weggeworfen. Bis um 1800

schenkten Komponisten ihnen kaum

Aufmerksamkeit. Wenn sich Werkstatt-

materialien erhalten haben, dann han-

delt es sich zumeist um Zufallsüberlie-

ferungen. Ludwig van Beethoven, der

Graphomane und Schreibexzentriker unter den Musikern,

war der erste, der – merkwürdig genug – seine Skizzenblät-

ter und -hefte sorgsam aufbewahrte. Über 7000 davon sind

noch heute bekannt. Viele taten es ihmnach, wie etwa Gustav

Mahler (Abb. 4), Max Reger (Abb. 5) oder Arnold Schönberg

(Abb. 6); auch Gegenwartskomponisten kehren die Späne ih-

rer Arbeitszimmer sorgfältig zusammen. Andere verwischten

konsequent die Spuren kompositorischer Plackerei: Johannes

Brahms etwa beförderte jede Werkskizze in den Papierkorb

und hielt überhaupt nichts von indiskreten Blicken durch das

Schlüsselloch der Komponierstube. Gemeinhin hielten es

Komponisten ohnehin so, die Vorgänge in ihrer Werkstatt mit

der Aura des Geheimnisvollen zu umgeben. Mit der Erhebung

des Komponisten-Künstlers zum schöpfergleichen Genie im

Laufe des 19. Jahrhunderts hatte sich für diese der Mythos

unbegrenzt leistungsfähiger »Super-Gehirne« etabliert, die

keiner Hilfsmittel bedürften. Keiner pflegte ihn intensiver als

die Betroffenen selbst, wenn es darum ging, das phantasti-

sche Vermögen der eigenen Vorstellungskraft und des musi-

kalischen Gedächtnisses hervorzukehren, beides, wie erläu-

tert, unabdingbare Voraussetzungen für das Komponieren.

Sink hernieder Nacht der Liebe

Wie kann man sich, wenigstens beispielhaft, die Entstehung

eines umfangreichen Musikwerks vorstellen? Bestens geeig-

net für eine Antwort ist Wagners Drama

Tristan und Isolde

,

weil dessen Genese von 1857 bis 1859 bis in Einzelheiten hin­

ein genau dokumentiert ist. Dass diese einzigartig ist wie

diejenige eines jeden anderen Werks gleich welchen Kom-

ponisten, versteht sich von selbst. In dem für ihn typischen

Schaffensgang verfasste Wagner als erstes einen Prosaent-

oben

Abb. 7: Richard Wagner,

Tristan und Isolde, 2. Akt, 2. Szene

. O sink hernieder Nacht der Liebe I.

Erste Konzeption von Gesang und Begleitsatz in der »Kompositionsskizze«.

darunter

Abb. 8: Richard Wagner,

Tristan und Isolde, 2. Akt, 2. Szene

. O sink hernieder Nacht der Liebe II.

Fixierung aller wesentlichen Elemente der Komposition in der »Orchesterskizze«.

© Wagner, Wieland (Hg.): Hundert Jahre Tristan - Neunzehn Essays, Emsdetten, Lechte, 1965 S. [87] | Abb. 8 ebd. S. [88]. ebd. S. [88].

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