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aviso 1 | 2018
SKIZZE UND IDEE
COLLOQUIUM
Professor Dr. Ulrich Konrad
ist seit 1996 Ordinarius für
Musikwissenschaft an der Universität Würzburg. Als
erster und bislang einziger Musikwissenschaftler wurde er
2001 mit dem Leibniz-Preis der Deutschen Forschungs-
gemeinschaft ausgezeichnet. Er ist Ordentliches Mitglied der
Bayerischen Akademie der Wissenschaften.
oben
Abb. 9: Richard Wagner,
Tristan und Isolde, 2. Akt, 2. Szene
. O sink hernieder Nacht der Liebe III. Die vollendete Partitur.
wurf, dann die Erstschrift des versifizierten Textbuchs und
abschließend davon eine Reinkopie. Währenddessen kam es
bereits immer wieder zu Notizen kurzer musikalischer Einfälle.
Zu deren frühesten gehört eine melodische Phrase, textiert
mit den Worten aus der Liebesnacht, der zweiten Szene im
zweiten Aufzug: »Sink hernieder Nacht der Liebe« (Abb. 2).
Den Text veränderte Wagner bei dieser Stelle im Weiteren
nicht mehr, wohl aber die Musik (die zuerst notierte Melodie
erklingt später in der dritten Szene dieses Aufzugs als soge-
nanntes Liebesruhe-Motiv). Erst nach Vorlage des ganzen
Textes begann Wagner die eigentliche Arbeit an der Musik,
zunächst in Form einer »Kompositionsskizze« (Abb. 7).
Er schrieb, mit dem ersten Takt des Werks beginnend, vor
allem die Singstimmen und Hauptzüge des Orchesterparts
in einem rudimentären Klavierauszug nieder. Als der erste
Aufzug in dieser Form durchgearbeitet war, wiederholte sich
der Vorgang mit einem zweiten, weiter entwickelten Gesamt-
entwurf, auch »Orchesterskizze« genannt (Abb. 8). Der Kom-
ponist nutzte diesen erneuten Durchgang zur Klärung und
schärferen Konturierung vieler musikalischer Details. Auf
der Grundlage dieser Skizze brachte Wagner dann die voll-
ständige Partitur zu Papier – er hatte bis dahin vom ersten
Aufzug eine so genaue Vorstellung auch des Klangs gewon-
nen, dass er die Instrumentierung mit großer Zielsicherheit
niederzuschreiben vermochte (Abb. 9). Kaum war der erste
Aufzug fertig, ließ Wagner die Drucklegung beginnen. Viel-
leicht später notwendige Verbesserungen oder Änderungen
schloss er somit aus. Beim zweiten und dritten Aufzug verfuhr
er ebenso. Hier wurde die Arbeit allerdings erheblich intensi-
viert und beschleunigt. Wagner staffelte jetzt sein Vorgehen,
schuf Kompositions- und Orchesterskizze nur tageweise von-
einander versetzt und schrieb parallel zur fortschreitenden
Arbeit an der Orchesterskizze zugleich auch an der Partitur.
Abgeschlossene Manuskriptteile gingen sogleich an den Verlag.
Mit gleichbleibender Konzentration, in stoischer Selbstdiszi-
plin reihte Wagner Takt an Takt, mit eisernemFleiß füllte er
auf der Grundlage seiner Skizzen großformatige Partitursei-
ten. An dem Tag, als er die letzten Blätter seines Autographs
auf die Post gab, hielt er nichts anderes mehr als die Konvo-
lute seiner nunmehr erledigten Skizzen in der Hand. Dass
er sie in dieser besonderen Situation nicht wegwarf, bedarf
wohl keiner Erklärung.
oethe zeigte sich davon überzeugt, dass bei einem
Komponisten wie Mozart – andere dieses Ranges
meinte er selbstverständlich ebenso – »der dämoni-
sche Geist seines Genies ihn in der Gewalt hatte, so
daß er ausführen mußte, was jener gebot.« Der Kom-
ponist als Musicbox, in welche die Götter oben eine Münze
einwerfen, damit unten der
Tristan
herauskommt?Werkstatt-
zeugnisse, allen voran Skizzen und Entwürfe, sagen etwas an-
deres: Komponisten empfangen weniger im heiligen Wahn
Tonwolken, sie arbeiten vielmehr zielstrebig, ökonomisch, mit
klaremVerstand an Notentexten. So entstehenMeisterwerke.
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© Wagner, Richard; Tristan und Isolde WWV 90 Documenta musicologica, II/45 / Bärenreiter Facsimile Hg.: Ulrich Konrad, S. 195 (Autograph: Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth)