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aviso 1 | 2018
SKIZZE UND IDEE
COLLOQUIUM
Transzendenz, die er nie erreicht und die er niemals sehen
wird, aber er fliegt in die richtige Richtung. Das ist nicht
versöhnlich, Jean Paul meint den vernichtenden Humor, der
nicht sieht, wohin es ihn treibt, und der für ein Lachen steht,
»worin noch ein Schmerz und eine Größe ist«. Sein Begriff
für Groteske, und für groteske Komik; und Komik distan-
ziert sich, ist angriffslustig, sie ist keine Ironie, kein ›einver-
standener‹ Humor. Das Unzusammengehörige, das schief
beantwortete, schief oder mit einem Sprung fortgeführte ist
Kluges Lust; er sagt, das komme aus Halberstadt, sei dort
heute noch im Schul-Pausengespräch so: Gut angesehen ist
der, der versetzt antwortet, und so sind die Geschichten in
Kluges Bänden auch aneinandergekettelt.
Was soll das heißen, eine angriffslustige Komik? Wir leben
alle in unserem Bild von Wirklichkeit, die wir bauen, aus
vielen Teilrealitäten, eine Konstruktion, man könnte auch
sagen eine Fiktion. Dieser Glaube an Wirklichkeit kann
durch Witz, durch Lachen beschädigt werden, sie wirken
»enthomogenisierend«, unser Verständnis von Wirklichkeit,
auch unser Selbstverständnis kann momentweise zur Dis-
position gestellt werden, und das ist ein Gefühl von Freiheit.
Wenn Kluge das
crossmapping
mit dem Bild erklärt: »Mit der
Straßenkarte von Groß-London den Harz durchwandern«,
also eine Wirklichkeitskategorie mit einer anderen ›lesen‹,
kann das schief gehen – Sie »brechen sich einen Arm« – ,
aber das ist auch eine »unmittelbare Erfahrung: man bricht
sich diesen Arm nicht ein zweites Mal.« Und wenn Sie nur
davon lesen, schmerzt der Arm noch nicht einmal, und Sie
machen die Erfahrung trotzdem. Solche Überkreuzungen
können auch die zwischen Theorie und Erzählung sein, und
in der Philosophie die Komik zu finden, gehört zu den grö-
ßeren Entdeckungen Kluges, würde ich behaupten.
Vielleicht noch einen Satz, um das ›Konstellieren‹ zu ver-
deutlichen, die Art, wie Groteske entsteht. Ein Vers, den
Alexander Kluge mehrfach verwendet hat, stammt aus einem
Gedicht von Johann Baptist Mayrhofer: »Die Erde ist gewal-
tig schön, / Doch sicher ist sie nicht!« Franz Schubert hat
das Gedicht vertont, es heißt
Wie Ulfru fischt
. Das klingt ja
erst einmal keineswegs komisch; das wird es erst, wenn man
weiß, dass kein Mensch weiß, wer Ulfru ist – und dass die
Sprecher des Gedichts Fische sind, die, die er nicht erwischt,
andernfalls er sie vermutlich essen würde. Aber vielleicht soll
Ulfru auch ins Wasser gelockt werden, die Nixen geben ihm
die Fische nicht, gefährlich für Ulfru, nicht für die Fische…
die Groteske funktioniert also nicht einmal durch den Vers
selbst, erst durch seine Kontexte. Dass die Erde »gewal-
tig schön« ist, darin steckt die Menschheitsgeschichte als
Erfolgsgeschichte der Evolution (bisher), in gewisser Weise
›schön‹; aber auch die Gewalt, eine Katastrophengeschichte.
Fortführen der Kritischen Theorie. Antirealismus der Gefühle.
Hier entspringt Kluges Blick und Werk der Kritischen Theo
rie, Adornos vor allem, dem ja immer präsent war, dass wir
in einer Welt leben, in der »Katastrophen eintreten«. Am
Anfang steht immer auch Gesellschaftsanalyse, die Wirk-
lichkeit soll schon so präzis wie möglich wahrgenommen
werden, ohne dass daraus je eine geschlossene systematische
Philosophie geworden wäre, ein System sei der »Geist ge-
wordene Bauch« (Adorno, nicht Kluge –
Negative Dialektik
,
1966). Die Kritische Theorie wollte die Gesellschaft analysie-
ren »im Lichte ihrer genutzten und ungenutzten oder miss-
brauchten Kapazitäten zur Verbesserung der menschlichen
Lage«; kürzer als mit Herbert Marcuse lässt sich das nicht
sagen.
Die Messlatte bei Adorno ist der Massenmord an den euro-
päischen Juden, Auschwitz, jede Kunst muss sich messen
lassen, ob sie sich dazu verhält oder so fort macht, als sei
nichts gewesen. Daran kann Kluges Werk sich messen lassen,
keine Frage; aber er sucht dennoch in den geschichtlichen
Prozessen, so schrecklich und gegen die Einzelnen gerich-
tet sie verlaufen mögen, immer nach den Gefühlen ›unter‹
der Geschichte. Wie haben die Menschen versucht, Auswege
zu finden aus der Kälte gesellschaftlicher Verhältnisse? Wer
traut sich »und reißt die Kälte vom Pferd«? Woher nehmen
wir die Hoffnung, die sich immer wieder reaktivieren lässt?
Das ist mit dem Anti-Realismus der Gefühle gemeint: Men-
schen können nicht immer nur Realisten sein. Wir hoffen,
wünschen, suchen nach den guten Ausgängen, auch in un-
seren Erfahrungen und in denen unserer Vorfahren – und
um uns das klar zu machen, dazu brauchen wir Literatur.
Eine fast befremdliche Leseerfahrung, die Sie mit Kluges
Literatur machen können: er erzählt Ihnen von guten Wen-
dungen, vomGlück, von den Katastrophen des Jahrhunderts,
politischen wie privaten, und Sie gehen eher frohgemut aus
diesen Lektüren heraus, obwohl Ihnen keine Katastrophe
verschwiegen worden ist.
Solche Katastrophen können ja auch die eigenen Bindungen
betreffen, und zu diesem Thema lässt sich viel im letzten
Großband
Kongs große Stunde
(2015) finden. King Kongs
große Stunde ist die Verteidigung der weißen Frau: »Das,
was wir lieben, müssen wir beschützen.« Die Menschen ge-
hören zur Familie der Trockennasenaffen, es steckt noch
viel Kong in uns, etwas, das älter und manchmal mäch-
tiger ist als wir. Das ist quer durch die Geschlechter auf-
zufassen, in einer der komischsten Geschichten stellt
die Erzählerin, eine Managerin, klar: »Mein Mann ist
die weiße Frau in meiner Hand. Was für ein Zwerg im
Gemüt!«
In
Kongs große Stunde
ist viel über Kluges eigene Verluste,
seine eigene Herkunftsfamilie zu erfahren – er schreibt,
um seine geschiedenen Eltern wieder zusammenzubrin-
gen –, der Band lässt sich auch als Einkreisung, Bestimmung
des Bürgertums lesen, und Bürger ist man ja nicht einfach
nicht mehr, wenn man sich zum Nichtbürger erklärt, ein
großes Thema. Kluge führt diesen Diskurs anhand seines
eigenen Vaters, des Arztes Ernst Kluge aus Halberstadt, der
noch unzweifelhaft ein Bürger war. Eine seiner Vorschläge
möchte ich für die Berliner Koalitionsrunden 2017/18